Mein Kind von einem anderen Stern

Der größte Wunsch werdender Eltern ist ein Kind, das gesund und den Herausforderungen des Lebens gewachsen ist. Was aber, wenn nicht? Im Rahmen von „10 Jahre Teschnergasse“ haben wir unter anderem über Flo und seine Mutter berichtet. Das Interesse an der Geschichte der beiden war so groß, dass wir ein Interview daraus gemacht haben. Sabine Zloklikovits ist seit Jahren im Vorstand von Rainman‘s Home aktiv, Flo fast von Anfang an in der Teschnergasse dabei.

Werdende Eltern wollen das Beste für ihr Kind, absolvieren Vorsorgeuntersuchungen, bereiten sich auf die Geburt vor, lesen Bücher, recherchieren im Internet und diskutieren Erziehungsfragen. Nicht anders war es bei Sabine und ihrem Mann, als sich das erste Kind ankündigte. Doch auf das, was die jungen Eltern erwartete, gibt es keine Vorbereitung.
„Ich war sehr jung, als Flo zur Welt kam. Viel zu früh, in der 28sten Woche, umringt von Ärzten und Geräten, die seine Herztöne überwachten. Es ging alles so schnell. In den ersten Wochen im Spital hatte er zwei Hirnblutungen. Monatelang zitterten wir, dass er überlebt.“ Wir sitzen in einem Pausenraum der Hans-Radl Schule in Wien Währing, in der Sabine als Hort-Assistentin arbeitet. Sabine ist Mutter von zwei Söhnen, Florian ist heute 24, Sascha 21 Jahre alt.

Florian ist Autist. Bis zur Diagnose war es ein langer Weg.

Jahrelang wurden Flos Verhaltensauffälligkeiten von den Ärzten auf typische Entwicklungsverzögerungen bei „Frühchen“ zurückgeführt. Eine Diagnose, die für die jungen Eltern so nicht haltbar war. Es war einfach zu offensichtlich, dass da „noch etwas anderes“ sein musste. „Viele seiner Verhaltensweisen waren eigenartig. Schon als Baby wollte er sich nicht halten lassen, machte sich steif, wenn man ihn berühren oder hochnehmen wollte. Stundenlang lag er da, schaute teilnahmslos in die Luft und verweigerte Essen und Trinken. Sehr spät erst lernte er Laufen, mit 5 Jahren erst zu sprechen.“ Für Florian und seine Eltern begann eine Odyssee auf der Suche nach kompetenten Ansprechpartnern und hilfreichen Therapieansätzen.

Von Akupunktur über Craniosacrale und andere Therapien, nichts blieb unversucht. Immer wieder stellten sich kleine Erfolge ein, aber nach wie vor war sein Verhalten einfach anders. Während andere Kinder seines Alters begannen, plappernd und mit Händen und Füßen die Welt zu erobern, wollte Flo nicht einmal seinen Löffel selbst halten. Trotz aktiver Bemühungen und zahlreicher Konsultationen bei unterschiedlichen Ärzten gab es weder eine Diagnose für Flo noch konkrete Beratung oder Unterstützung für die Eltern. Autismus wurde nie angesprochen. Das Internet als Informationsquelle stand damals nur begrenzt zur Verfügung.

Von einer Untersuchung zur nächsten, aber keiner sagte einem was.

DSC_0161Viele Informationen habe sie nur durch Gespräche mit betroffenen Eltern bekommen, erzählt Sabine . „Niemand sagt einem was. Ob spezielle Frühförderung oder auch finanzielle Unterstützung, keiner hat uns informiert. Erst durch eine andere Mutter, die zufällig im Spital neben mir saß, habe ich erfahren, dass es so etwas wie Pflegegeld und erhöhte Kinderbeihilfe gibt.“ Für Sabine (hier rechts im Bild beim VI. Autismusforum Rainman’s Home 2015) ein Grund mehr, sich in der Elternarbeit zu engagieren und immer wieder auch ihre persönliche Geschichte zu erzählen. Selbst heute noch mangelt es in Österreich an Anlaufstellen für Betroffene und ihre Angehörigen. Und das bei geschätztem 1% vom Autismusspektrum betroffenen Kindern pro Geburtenjahrgang, Tendenz steigend.

Nach Flos Geburt folgten drei Jahre mit engmaschigen Kontrollen in Glanzing, damals die Spezialabteilung für Frühgeburten. „Die Termine waren für uns alle eine Qual. Flo ist jedes Mal steif wie ein Bock dort gesessen, zeigte keinerlei Reaktion und wollte partout nicht sprechen. Die für Hörtests verwendeten Kopfhörer machten ihm Angst. Er hat sich allem und jedem verschlossen.“

Obwohl frühkindlicher Autismus im Alter von 2 bis 3 Jahren diagnostiziert werden kann, äußerten weder die Ärzte in Glanzing noch später im Ambulatorium für Logopädie & Ergotherapie einen Verdacht. Immerhin, ein dankbares Lächeln huscht über Sabines Gesicht, hatten sie hier eine Logopädin gefunden, die Flo akzeptierte. Mit Engelsgeduld habe sie mit ihm gearbeitete. Leider war ihre Karenzvertretung weniger erfolgreich, einen persönlichen Bezug zu ihm herzustellen. Sabine resümiert: „Wenn die Chemie nicht stimmt, hilft auch die größte Fachkenntnis wenig.“

Die beklemmende Frage: Sind wir Eltern schuld?

Gleichzeitig mit dem Verlust der vertrauten Logopädin ergab sich ein weiteres einschneidendes Erlebnis. Beim gemeinsamen Besuch einer Psychologin wurde der Mutter suggerierte, sie selbst sei für das „merkwürdige“ Verhalten ihres Sohnes verantwortlich und Erziehungsfehler wären die Ursache für seine Auffälligkeiten. „Ich war am Boden zerstört. Es gab nach wie vor keine Diagnose und entsprechend auch keine direkte Anlaufstelle, an die wir uns noch hätten wenden können. Wenn wir Flo ansprachen, schaute er an uns vorbei, zeigte kaum Schmerzempfinden oder Temperaturgefühl. Ob es draußen heiß oder kalt war, ihm schien alles egal zu sein.“ Entsprechend problematisch verlief die Suche nach einem geeigneten Kindergarten. Die Rückmeldungen waren überall die gleichen. Flo sei schwierig, verhalte sich bockig und spiele nicht mit den anderen Kindern. Er konnte sich stundenlang allein mit etwas beschäftigen, zeigte sich aber ansonsten wenig kooperativ. Man riet den Eltern zu einem Sonderkindergarten.

„Wir fanden schließlich einen integrativen Kindergarten mit Montessori geführten Kleingruppe, in dem er sich wohl fühlte. Zwei Jahre verbrachte er dort, hat sogar einen Freund gefunden. Es war schön, nach so langer Zeit Fortschritte zu sehen.“ Die darauf folgenden fünf Jahre besuchte er die „Familienklasse“ einer Sonderschule, entdeckte seine Vorliebe für Musik und begann auf der „Veeh-Harfe“ zu üben. Auch hier war es eine besonders engagierte Lehrerin, die durch ihr Einfühlungsvermögen maßgeblich zu Flos Entwicklung beigetragen hat. Ein Engagement, für das sie ihr noch heute unendlich dankbar sei, erzählt Sabine, die seit dem regelmäßig mit ihrem Sohn ins Konzert geht.

Mit jedem noch so kleinen Entwicklungsschritt schien es aufwärts zu gehen. Doch die Schuldfrage lastet noch immer schwer auf den Eltern, noch immer gab es keine eindeutige ärztliche Diagnose. Flo war 11, als eine Psychologin gefunden wurde, die durch Zusammenarbeit mit Kindergärten und Schulen erfahren war und die er zu mögen schien. „Irgendwann hat sie zu mir gesagt, der Flo sei wie ein Kind von einem anderen Stern, zufällig auf der Erde gelandet und nur besondere Mütter bekämen solche besonderen Kinder. Mittlerweile betreut sie ihn seit 14 Jahre und wir haben ihr viel zu verdanken. Auch, dass der schwere Brocken meiner Schuld oder Mitschuld als Mutter mit der Zeit endgültig von mir abgefallen ist.“

Schulwechsel, neue Lehrer – und endlich eine Diagnose

DSC_0277Mit 12 Jahren stand für Flo ein neuerlicher Schulwechsel an. Eine verwandte Lehrerin empfahl die Hans Radl Schule, Zentrum für Inklusions- und Sonderpädagogik. Sabine erinnert sich: „Ich war sofort begeistert und dachte, mit dieser Entscheidung das Beste für Flo zu tun. Aber das erste Jahr war hart. Für ihn war hier alles neu, die Schule viel größer. Plötzlich waren viel mehr Kinder um ihn herum. Kein Vergleich zu dem behüteten Nest, in dem er die letzten Jahre verbracht hatte. Er war bockig und verstummte wieder.“ Es war eine glückliche Fügung, dass an der Schule zwei Lehrer mit Erfahrung im Umgang mit autistischen Kindern arbeiteten, die sich auch bei Rainman’s Home engagierten. Über die Klassenlehrerin ließen sie der Mutter ein Buch zukommen, das von einem autistischen Jungen handelte.

„Über Flos Lehrerin spielten mir die beiden ein Buch von einer Mutter und ihrem Sohn mit Asperger-Austismus zu. Direkt angesprochen haben sie mich nicht, da sie offenbar schlechte Erfahrungen mit der direkten Ansprache von Eltern bei Autismusverdacht hatten. Ich habe also das Buch gelesen und mein erster Gedanke war: Wie kann jemand ein Buch über mich und meinen Sohn schreiben? Es war so eine Erleichterung zu sehen, dass es andere Familien gibt, die ähnliche oder sogar die gleichen Probleme haben wie wir. Es war, als nehme man mir die Selbstzweifel und vor allem die Schuld, dass ich als Elternteil etwas falsch gemacht habe.“

Sabine nahm Kontakt mit Dr. Therese Zöttl und Dr. Anton Diestelberger, selbst Vater eines Mannes im Autismusspektrum, auf. In Gesprächen mit den beiden, die heute als Obmann und pädagogische Leitung von Rainman’s Home tätig sind, verdichtete sich der Verdacht auf Autismus. „Ich bin damals direkt zu Dr. Zöttl gegangen und habe das Gespräch gesucht: Sie hat mir weitere Bücher empfohlen. Langsam bekam ich so etwas wie einen Blick für die Autismusspektrumstörung“.

Therapiehund – ja oder nein?

Neben charakteristischen sozialen und kommunikativen IMG-20160619-WA0000Mustern zeichnen sich Personen im Autismusspektrum durch besondere Vorliebe für ritualisierte Handlungen und Routine aus. Oft kennzeichnen stereotype, repetitive Handlungen das Verhalten, während Neues oder Unbekanntes abgelehnt oder sogar als bedrohlich empfunden wird,. Ein Umstand, der im Alltag, aber auch bei Unterstützungsangeboten, besondere Sensibilität erfordert. Die Idee, einen Therapiehund in die Familie aufzunehmen, kam bereits während Flos Volksschulzeit. „Die ganze Familie war sofort begeistert. Wir meldeten uns beim zuständigen Institut an, holten die erforderlichen Stellungnahmen in Familie und Schule ein und hatten sogar schon einen Sponsor für die Anschaffungskosten von 20-25.000 Euro gefunden. Aber dann kam alles anders.“ Auf der Rückfahrt vom Institut, das den Hund für Flo ausbilden sollte, war sein damals 7jähriger Bruder Sascha ungewöhnlich still, seine Antwort für die Eltern schwer zu verkraften: „Ich wünschte, ich wär’ behindert, dann bekäme ich auch einen Hund.“  Als sich außerdem herausstellte, dass Flo sich vor dem für ihn ausgewählten Tier fürchtete, wurde beschlossen, erst einmal keinen Therapiehund zu nehmen.

Es sollte noch Monate dauern, bis die Familie durch Freunde auf einen Züchter aufmerksam wurde und schließlich mit einem Welpen „ohne spezielle Ausbildung“ nach Hause kam. „Sie hieß Coco. Es war Liebe auf den ersten Blick für uns alle, wobei Flo den Kontakt nicht so gesucht hat wie später bei der Sammy, dem schokobraune Monster, das überall raufhüpft und so viel Wirbel macht“, erinnert sich Sabine an die erste Begegnung mit dem neuen Familienmitglied, zu dem inzwischen ein weiteres hinzugekommen ist.

„Zuerst dachte ich, es wird eine Katastrophe, aber die beiden haben eine ganz besondere Bindung. Sammy geht ohne Leine neben Flo bei Fuß, darf auf sein Bett hüpfen und ihm sogar das Gesicht abschlecken. Das durfte Coco nie. Nicht einmal ich darf ihm ein Busserl geben. Sammy hat eindeutig eine Veränderung gebracht. Natürlich ist er noch immer ein Morgenmuffel, aber kein Tag vergeht, an dem er das Haus verlässt ohne sich von beiden Hunden zu verabschieden. Und wenn wir nach Haus kommen, ist er schon beim Einparken gespannt, was Sammy wohl wieder angestellt hat.“

Wie war dein Tag? Von der Diagnose zur passenden Beschäftigung.

Nach neun Jahren Schulzeit bekam Flo 2007 einen Platz in der zweiten Tagesstätte von Rainman’s Home, die ein Jahr zuvor eröffnet worden war, um Schulabgängern mit Autismus passende Betreuungsplätze anbieten zu können. Ob er dort bleiben würde, war in den ersten Jahren alles andere als sicher. Immer wieder hat er von sich aus nur für ein weiteres Jahr verlängert. „Ein Spiel, das sich über eine sehr lang Zeit hingezogen hat“, erzählt Sabine schmunzelnd. Bis er dann eines Tages beschlossen habe „Ich geh hier in Pension“.

DSC08484Am liebsten arbeitet Flo in der Haushaltsgruppe. Auch die Holzwerkstätte hat es ihm angetan, wo er die Flugzeuge für Mobiles entworfen und entwickelt hat. „Das Tolle für Flo ist der Ansatz, dass hier jede Person in ihren Stärken gelobt und gefordert wird. So bekommt jeder für sich eine Bedeutung und entwickelt Selbstbewusstsein.“ Eine Entwicklung, die sich auch positiv auf das Kommunikationsverhalten auswirkt. „Früher hat Flo kaum etwas erzählt. Jetzt kommen am Abend immer öfter Rückmeldungen über das, was in der Tagesstätte gekocht und gemacht wurde. Er begeistert sich, findet Bedeutung in seinen Tätigkeiten und als Unterstützung für die Gruppe. Er erzählt sogar von seinen Pilates-Einheiten mit Daniela und führt zuhause Übungen vor.“

Flo selbst bestätigt die Aussagen seiner Mutter. Die beiden kennen sich eben gut. Ob der Titel „Mein Kind von einem anderen Stern“ für ihn ok ist? Er lacht und bestätigt mit einem langgezogenen „Jaaa“. Zu der Therapeutin, die ihm und seiner Mutter seinerzeit so geholfen hat, hat er noch immer Kontakt. In der Tagesstätte Teschnergasse gefällt ihm am besten „die Atmosphäre, sie ist angenehm und ruhig. Ich bin in allen drei Gruppen gern, der Holzwerkstätte, der Keramikwerkstätte und in der Haushaltsgruppe. Die mag ich am liebsten, weil ich gerne koche.“ Ob er denn auch zu hause koche? Er schüttelt den Kopf, zuckt die Schultern und schmunzelt. „Nein, zuhause koch’ ich nicht“.

Entsprechend seinen Steckenpferden Biologie und Geographie würde Flo gerne reisen. Am liebsten nach Amerika, weil es so groß ist und es viel zu sehen gibt, nach Norwegen oder nach Australien. „Wenn ich machen könnte was ich will, aber auch in Australien kann ich ja nicht nur das machen, was ich will, würde ich den ganzen Tag im Wasser verbringen. Aber ich brauche auch Abwechslung, vielleicht raus in die Savanne.“ Durch die zahlreichen Unternehmungen und Radtouren mit seiner Familie kennt er sich in Wien gut aus. Seine Lieblingsplätze sind das Technische und das Kunsthistorische Museum und die Gegend rund um den Kahlenberg.

IMG-20160626-WA0000Entgegen ärztlicher Prognose ist Flo zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen. Er hat Stärken und Schwächen wie jeder andere auch. Und er ist Autist. Bald steht sein 25ster Geburtstag an. Sabine, die sich seit Jahren als Vorstandsmitglied bei Rainman’s Home engagiert, über ihr Familienleben heute: „Wenn Flo nach hause kommt, braucht er erst mal eine Stunde für sich. Manchmal kommt er dann von sich aus, um zu reden oder gemeinsam etwas zu unternehmen. Als Familie spielen wir viel zusammen Karten, aber leider hilft er zuhause gar nicht gern in der Küche. Ab und zu bekomme ich ihn in den Garten, um beim Lavendelschneiden zu helfen. Besonders gern gehen wir zusammen ins Konzert. Mit so was kann ich ihn aus der Reserve locken. Aber er wird 25 Jahre alt, wenn er nicht bespaßt werden will, lasse ich ihn. Wenn er allein ist, rennen oft gleichzeitig der Fernseher und Musik, parallel dazu skypt er mit seinem besten Freund Max. Manchmal liegen auch noch Spielkarten irgendwo griffbereit herum.“

Was ist für Flo das Wichtigste im Leben? „Das Wichtigste im Leben ist für mich die Familie. Dann kommen Freunde und Bekannte.“ Und was ist mit den Hunden? Wieder lacht er, bevor er sehr ernsthaft antwortet: „Die gehören zur Familie dazu. Ein Leben ohne Hunde kann ich mir gar nicht vorstellen“.

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