„Eltern autistischer Kinder am Beginn eines langen Weges“ von Dr. Anton Diestelberger

Der Beginn des Lebens mit einem autistischen Kind dürfte in den meisten Fällen genauso verlaufen wie bei jedem anderen Kind. Junge Eltern wünschen sich das Allerbeste für ihr Kind und viele werden insgeheim bestimmte Pläne entwickeln und hoffnungsvolle Pläne schmieden. An der Seite eines autistischen Kindes nimmt das Leben der betroffenen Eltern einen völlig anderen Verlauf als erwartet und erhofft. Nur in seltenen Fällen treten schon in den ersten Wochen für Eltern erkennbare Merkmale auf, die auf eine mögliche Entwicklungsstörung weisen.

Autistische Babys erscheinen meist völlig unauffällig, alle äußeren Merkmale lassen an ein gesundes Kind glauben. Für die klassische Autismusdiagnose wird verlangt, dass diese bis zum dritten Lebensjahr erfolgen sollte. Viel zu wenig wird in der allgemeinen Diskussion beachtet, dass die mögliche Früherkennung auch eine frühe Begleitung und Beratung der Eltern autistischer Kinder einschließen muss. Die Situation der betroffenen Eltern ist in Österreich wesentlich schwieriger als in vergleichbaren Ländern Europas, auch in den meisten unserer Nachbarländern haben sie mehr Anspruch auf Unterstützung.Bei Kontakten mit Eltern in Deutschland erhielt ich den Eindruck, dass diese davon ausgingen, die Situation in Österreich wäre in Bezug auf die Unterstützung und Beratung zumindest ähnlich. Das ist sie aber nicht.

In Österreich fehlt es an flächendeckenden Beratungszentren. Viele Eltern haben Probleme, eine Stelle zu finden, um eine Diagnose zu erhalten. In der allgemeinen Diskussion wird der Phase, die vor der eigentlichen Diagnose liegt, zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet: Ab wann und woran merken Eltern, dass möglicherweise eine Entwicklungsstörung bei ihrem Kind vorliegt? Es wird als ein schmerzlicher Schritt erlebt, überhaupt zuzugeben, dass etwas im Verhalten des Kindes auf eine mögliche Störung hinweist. KindergartenpädagogInnen erzählen von belastenden Situationen, wenn sie versuchen, Eltern auf den Verdacht von Autismus bei ihrem Kind hinzuweisen. Es ist nachvollziehbar, dass Eltern eine Diagnose und den Gang zu einer möglichen Untersuchung fürchten, macht doch eine Diagnose eines klar: Das Kind wird sich nicht so entwickeln, wie erwartet und wie im landläufigen Sinn als „normal“ bezeichnet.

Aber was ist schon normal? Isabell Rapin machte deutlich, wie facettenreich sich Autismus darstellt: „Wahrscheinlich gibt es so viele Arten von Autismus, wie es Menschen mit Autismus gibt.“ Die individuelle Ausprägung des Autismus ist damit festgehalten, ebenso die individuelle und situationsbedingte Lage, in der sich Eltern autistischer Kinder befinden. Eltern fällt es ungleich schwerer, frühe Merkmale einer Entwicklungsstörung zu bemerken, handelt es sich um ihr erstes Kind. In den meisten Fällen haben sie von Autismus noch kaum etwas gehört und sich damit auch noch nicht auseinandergesetzt. So viele mögliche Störungen gibt es, aber natürlich befasst man sich mit diesen erst dann, wenn es die Umstände verlangen. Die spezielle Lage der Eltern gerade in dieser Phase ist zu berücksichtigen. Sie bedürfen einer verständnisvollen und fachkundigen Begleitung ebenso wie das autistische Kind. Wo finden sie jene Stellen, die das bieten können? Welche Informationen können und dürfen zum Beispiel die PädagogInnen weitergeben?

Der Zugang zu Beratungsstellen muss erleichtert werden, eine Abstimmung der Angebote erfolgen und von zentraler Stelle bundesweit publik gemacht werden. Wenn sich Eltern nicht vom eigenen Gefühl geleitet auf die Suche machen, erleben sie zu dieser Zeit wahrscheinlich erstmals einen Druck, sei es aus dem Lebensumfeld oder aus einer Institution. Das Anderssein wird als „Fehlverhalten“ ausgelegt. Je nach der persönlichen Situation können Verwandte und Freunde in dieser Phase sowohl Hilfe als auch zusätzliche Belastung sein. Ein behutsames, taktvolles Hinführen zur Diagnose sollte es den Eltern erleichtern, ihr Kind „annehmen“ zu können.

Den Menschen im Umfeld eines autistischen Kindes kommt eine entscheidende Bedeutung bei, ebenso jenen im Umfeld der Eltern. Wie werden die Experten vorgehen, an die sie sich wenden oder an die sie geraten? Welche Unterstützung können sie finden? Welche Wege werden aufgezeigt? Oft berichten Eltern, dass sie in eine spezielle Abhängigkeit geraten. Viele Experten sind von ihren Methoden so überzeugt, dass sie nichts Anderes gelten lassen wollen. Von existenzieller Bedeutung wird sein, dass die Eltern für sich und für ihr Kind zu realistischen Zielen gelangen. Das Leben mit einem autistischen Kind ist ein völlig anderes als erwartet, aber es kann lebenswert verlaufen, wenn der mögliche Weg erkannt und eröffnet wird.

Die Diagnose kann befreien, wenn sie zum Verstehen führt. Schmerzlich ist es Einschränkungen erkennen zu müssen, befreiend wirkt sie, wenn sie Druck von den Schultern der Eltern nimmt und Möglichkeiten aufzeigt und neue Chancen eröffnet. Die frühe Erkennung führt zu Frühförderung. Eltern autistischer Kinder müssen sich jedoch dafür hüten, ihr Kind zu einem nichtautistischen machen zu wollen. Ein derartiges Unterfangen führt zu einer Überforderung aller und kann Grund von einem „Ausbrennen“ und von tiefer Verzweiflung sein. Ein autistisches Kind bleibt autistisch. Der Grundsatz der Förderung sollte lauten: „Fördern durch Fordern, aber ohne Überforderung!“

Ruth Cohn formuliert drastisch: „Wer zu wenig gibt, ist ein Dieb, wer zu viel gibt, ist ein Mörder!“ Die Frühförderung sollte bewusst an den Stärken des Kindes aufgebaut werden, um so zu Erfolgserlebnissen zu führen und damit eine Vertiefung der Beziehung und der Zuneigung zu entwickeln. Dies ist die Brücke, über die ein solches Kind erreicht und gefördert werden kann.

In der Tagesstruktur von Rainman’s Home gilt der Grundsatz: „Die Stärken stärken, um mit den Schwächen leben und an ihnen arbeiten zu können.“ Die Zeit vor dem Schuleintritt ist daher von besonderer Qualität, können die Ziele doch selbst bestimmt und gewählt werden. In dieser Zeit droht aber auch die Gefahr, von ExpertInnen vereinnahmt und neuerlich einem Druck ausgesetzt zu werden. Daher die Warnung: Man hüte sich vor Gurus, die Wundersames versprechen. In rigorosen Förderprogrammen kann auch Gewalt mehr oder weniger versteckt inkludiert sein. Gewalt, das muss klar ausgedrückt werden, führt zu keinem nachhaltigen Erfolg. Geraten Eltern zu sehr unter einen institutionellen Druck, geben sie diesen Druck oft an ihre Kinder weiter und können in ihrer Verzweiflung Gewalt – in welcher Form auch immer – einsetzen. Erziehung soll liebevoll sein, muss durchaus Grenzen setzen und soll konsequent sein, aber stets ohne Gewalt. Wer Gewalt ins System bringt, wird diese später gegen sich und andere gerichtet erleben.

Je früher die „Arbeit“ mit autistischen Kindern beginnt, umso wahrscheinlicher ist es, einen lebenswerten Weg zu finden. Die Augen nicht vor möglichen Anzeichen verschließen heißt auch, gezielt nach Hilfe suchen. Dabei gilt es, eine kritische Distanz zu bewahren und den eigenen Menschenverstand zu gelten zu lassen. Wenn Herbart vom „Pädagogischen Takt“ spricht, so dürfen auch die Eltern autistischer Kinder an ein taktvolles Vorgehen erinnert werden, ihrerseits aber auch ein solches erwarten und verlangen dürfen. Die Lage autistischer Kinder und ihrer Eltern kann nachhaltig positiv beeinflusst werden, wenn alle PädagogInnen vom Kindergarten bis in alle schulischen Einrichtungen methodenkonform agieren können, wenn es darüber hinaus fachlichen Rat und begleitende Hilfe für alle gibt und wenn im Bereich der Medizin ebenfalls dieses Wissen vom speziellen Umgang mit autistischen Menschen Eingang findet. Das ist nicht zu viel verlangt, zeigt sich doch, dass alles, was für autistische Kinder und Menschen geradezu lebensnotwendig ist, den anderen auch sehr hilft.

Ein pädagogischer Umgang, der von Wertschätzung geprägt ist, Individualisierung und Differenzierung als Ziele definiert und klar strukturiert verläuft, kommt allen entgegen. Der methodenkonforme Umgang mit autistischen Kindern kann als „Hohe Schule“ der Pädagogik gesehen werden. Wenn auch autistische Kinder förderbar sind, so ist der Weg, der ihnen offen steht, doch nur ein schmaler Grat. Sie selbst sind die empfindsamsten pädagogischen Anzeiger und reagieren, sobald dieser Weg verlassen wird. Werden diese Zeichen richtig gedeutet, sind neue Qualitäten des pädagogischen Handelns erreichbar. Auf diese Weise erweitern sich die pädagogischen Werkzeuge und eine Handlungsvielfalt auf Seiten der PädagogInnen wird erreicht. Parallel dazu entsteht eine neue Sichtweise. Die pädagogischen Maßnahmen sind mit Bedacht, großer Behutsamkeit und im Klima der Wertschätzung vorzunehmen.

Eine Diagnose ist nicht fürchterlich, die Hoffnungslosigkeit, geeignete Begleitung und Beratung zu finden ist es; unerträglich aber ist Unwissen der Profis in entsprechenden Bereichen. Das kann dann dazu führen, dass Eltern resignieren oder zu Kämpfern werden, die phasenweise über das Ziel hinausschießen. Die Diagnose kann aber auch befreiend wirken, erklärt sie doch manches und zeigt den zu beschreitenden Weg auf. Wenn die Diagnose auf diese Art zum Verstehen und zu neuen Einsichten führt und zudem den Zugang zu speziellen Förderungen eröffnet, dann wäre sie von besonderer Nützlichkeit. Die öffentliche Hand ist daran zu erinnern, wie weit unser Land im Vergleich zu den Nachbarländern hinterher hinkt. Die Barrieren für autistische Kinder und somit für deren Eltern erscheinen im heutigen Österreich noch immer oft unüberwindbar.

Die Zeit ist zu nützen, ganz besonders jene am Beginn des Lebens autistischer Kinder. Je mehr wir ihre Art der Wahrnehmung verstehen, umso eher werden wir uns ihnen an die Seite stellen können und gemeinsam neue Wege beschreiten können. Eine wesentliche Einsicht ist, dass wir nie gegen die inneren Strukturen eines Menschen auf direktem Weg ankämpfen können, sondern dass wir versuchen mit diesen Strukturen zu agieren. Je früher wir die Zeichen deuten lernen, umso eher sind wir in der Lage, Autismus verstehen zu können. Dann erscheinen uns diese Kinder nicht fremd und belastend, sondern von einer besonderen Qualität.

AUTISMUS erkennen
Autismus ist, wie schon erwähnt, durch eine andere Art der Wahrnehmung gekennzeichnet. Das führt dazu, dass die Eltern eines autistischen Kindes Schritt für Schritt einsehen müssen, dass die Entwicklung ihres Kindes anders verläuft als in den allgemein definierten Entwicklungsstufen dargelegt. Das setzt wiederum voraus, dass die Eltern auf die Modelle der Entwicklungspsychologie bewusst achten und vergleichen. Schwer zu verstehen ist anfänglich, dass die erfolgversprechendste Förderung nicht jene ist, die es sich zum Ziel macht, das autistische Kinde so rasch wie möglich „normal“ zu machen. Ein autistisches Kind muss erst als solches erkannt und dann in all seinem Sein angenommen werden. Die ersten Schritte zu einer Förderung sind jene der direkten Bezugspersonen hinein in die Welt des Autismus. Man muss Autismus verstehen lernen. Erkennbare „Eigenheiten“ des autistischen Kindes sind im Sinne der Stärkenperspektive zu interpretieren und als Chance und Brücke zu sehen, mit dem Kind in Kontakt zu treten. Als Motto mag gelten, alles, was hilft, ist gut. Eine rigorose Einschränkung auf eine einseitige starre verhaltenstherapeutische Auslegung der Förderung erscheint fragwürdig. Es gilt, den Bezug zum Kind zu vertiefen und durch das Band der Liebe, Zuneigung und Wertschätzung zu stabilisieren.

Frühe beachtenswerte Merkmale und Hinweise:
● Mit etwa fünf Monaten beginnen Babys zu „babbeln“. Beantworten Sie die Laute des Kindes auf ähnliche Weise. Reagiert das Kind auf Sie? Kommuniziert es? Kommunikation (Kontaktanbahnung und Austausch) läuft nämlich schon sehr früh ab und lange bevor die ersten Worte erlernt werden.
● Augenkontakt beachten. Nimmt das Kind über die Augen gezielt und bewusst Kontakt auf? Beantwortet es Ihre Blicke?
● Aus dem Babbeln entwickeln sich differenziertere Laute. Ahmen Sie das Kind nach. Reagiert das Kind auf ähnliche Weise?
● Erkennt das Kind seinen Namen? Reagiert es darauf? Wenn nicht, denken Sie an einen Hörtest und eine medizinische Untersuchung.
● Etwa im Alter von einem Jahr sollten die ersten Worte gesprochen werden.
● Zunehmend werden nun Wörter und Laute zu kleinen Dialogen gereiht.
● Verwendet das Kind häufig nur einen Teil eines Spiels oder einen Teil eines Spielzeugs als „Lieblingsstück“? Trägt es dieses Stück auffallend häufig mit sich?
● Achten Sie auf die Motorik (Bewegungen): Heftiges Hin- und Herschaukeln des Körpers, auch über einen längeren Zeitraum; Fächeln der Hände; Drehbewegungen
● Üben drehende Bewegungen eine starke Anziehung aus? Beobachtung der drehenden Waschmaschinentrommel; faszinieren die Räder eines Spielzeugautos; wird das Dreirad umgekippt und werden die Räder ständig gedreht?
● Übt Licht eine starke Anziehung aus? Lange andauerndes Aus- und Einschalten des Lichts; Taschenlampe; ständiges Öffnen der Kühlschranktür (Licht leuchtet!)
● Wie entwickelt sich die Sprache? Erlernt das Kind leicht neue Worte, erweitert es seinen Wortschatz gleichsam beiläufig?
● Zeigt das Kind jene Dinge her, die es besonders interessieren?
● Greift das Kind selbstständig nach Dingen oder ergreift es die Arme einer Bezugsperson und führt diese, damit die Person den Gegenstand für das Kind nimmt?
● Reagiert das Kind heftig auf Änderungen gewohnter Abläufe?
● Oft scheint die Entwicklung etwa bis zum 24. Monat normal zu verlaufen. Dann aber treten zunehmend Probleme auf, vor allem bei der Ich-Findung.

Rund um den 30. Lebensmonat kann eine Diagnose mit größerer Sicherheit gestellt werden. Generell zeichnet sich der Förderansatz durch das „strukturierte Lehren und Lernen“ aus. Ansätze aus den Konzepten von TEACCH (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicaped Children), ABA (Applied Behavior Analyses) und PECS (Picture Exchange Communications System) sind zusammenzuführen, aber unter dem besonderen Klima der Wertschätzung und Achtung behutsam umzusetzen.

Anton Diestelberger und Therese Zöttl haben einen Fragebogen entwickelt, der sich zur Erstellung einer so genannten „Verdachtsdiagnose“ eignet. Dieser Test orientiert sich an jenen Merkmalen, die für Autismus kennzeichnend sind und die im DSM-IV und ICD-10 als Diagnosekriterien angeführt sind. Der Test ist sehr knapp gehalten – er umfasst zwei Seiten – und ist leicht durchzuführen (Download www.rainman.at). Seit dem Jahr 2013 wird im DSM 5 vom Autismus Spektrum gesprochen. „Mildere Formen“ von Autismus – oft auch als „Asperger-Syndrom“ bezeichnet – werden meist erst später erkannt. Dazu ist ein von Simon Baron-Cohen entwickelter Selbsttest (AQ-Test) im Internet zu finden.

Merkmale ab dem dritten Lebensjahr
Die Merkmale sind charakteristisch und manifestieren sich – wie schon erwähnt – bereits vor dem 30. Lebensmonat, werden aber oft erst wesentlich später erkannt werden. Sie umfassen folgende Auffälligkeiten, wobei drei signifikante Gebiete besonders zu beachten sind:

1. Das Verhalten in der Gesellschaft und im Umgang mit anderen Menschen, besonders die Weise der Kontaktaufnahme ist zu beachten.
2. Die Entwicklung der Sprache
3. Die Neigung zu Ritualen, Stereotypien und verschiedenen Auffälligkeiten in der Motorik (Fächeln der Hände, Zehenspitzengang, lang andauerndes Schaukeln des Körpers …)
• Kein Blickkontakt (Wegschauen oder leerer Blick)
• Kontaktschwierigkeiten zu Mitmenschen, auch zu Eltern, in seltenen Fällen Ablehnung von Zärtlichkeiten und Zuwendungen
• Mangelhaft ausgebildete optische und akustische Sinnestätigkeit, Unansprechbarkeit bis hin zum Verdacht auf Gehörlosigkeit, auffälliges Schmerzempfinden (Un- oder Überempfindlichkeit); Kinder scheinen oft in „ihrer“ Welt zu versinken
• Deutliche Sprachauffälligkeiten: – Echolalie: Das zuletzt Gehörte wird ohne eigentliche Reaktionen nachgesagt
– Schwierigkeiten bei der „ICH“-Findung: Das Kind spricht häufig von sich nicht als ICH. Es sagt „DU gehst jetzt ins Bad“ statt „ICH gehe jetzt ins Bad“.
– Oftmaliges Erzählen der gleichen Inhalte, häufig ohne direkten Bezug zur eben erlebten Situation
• Fehlende Nachahmungsfähigkeit: Das Kind bemüht sich nicht, Dinge zu tun, die Eltern tun. Das Verhalten oder die Tätigkeiten anderer Menschen werden nicht nachgeahmt. Es fehlt auch das Rollenspiel: Das Kind schlüpft nicht in andere Rollen; es spielt nicht Räuber, König, Cowboy usw.
• Stereotype Spielgewohnheiten, stundenlanges rhythmisches Klopfen, Baumeln, Drehen von Gegenständen
• Großer Widerstand gegen Veränderungen. Das gilt für den Wechsel der Kleidung genauso wie für Abwechslung im Menüplan.
• Auffällige Überaktivität, ständiges Hin- und Herlaufen, Fächeln der Hände
• Stimmungslabilität, Lachausbrüche oder Schreianfälle
• Kein Erkennen von realen Gefahren (Auto, tiefes Wasser)
• Benützen der Hände oder des Körpers seiner Eltern wie einen Gegenstand, um oft egozentrische Wünsche durchzusetzen
• Aber auch herausragende Fähigkeiten auf bestimmten Gebieten
Zu beachten ist, dass keineswegs alle diese Merkmale bei jedem autistischen Kind auftreten, andererseits bedeutet ein beobachtetes Merkmale keineswegs eine erfüllte Diagnose. Ein Bündel von Merkmalen führt zur Diagnose.

Resümee aus persönlicher Sicht
Rückblickend erinnere ich mich als ein mögliches erstes Anzeichen an eine auffällige Motorik, die ich damals jedoch nicht sofort als solche empfand. René, der mein Leben auf so besondere Weise prägte, schaukelte als Baby häufig und über lange Zeitspannen hinweg in seinem Bettchen. Dabei kniete er auf Kopf und Hände gestützt und ging so in ein rhythmisches Hin- und Her über. Diese Art sich „einzuschaukeln“ behielt er jahrelang bei, auch als er schon längst aus dem Volkschulalter war. Wir versuchten ihn davon abzubringen, ohne Erfolg.Als ich nach Jahren durch viel Erfahrung reifer mir einen neuen Zugang zu ihm und seiner Welt eröffnet hatte, ließ ich mich auf einen Versuch ein, um vielleicht zu erahnen, was er bei diesem Schaukeln empfinden könnte. Ich kniete mich Schulter an Schulter neben ihn in sein Bett und schaukelte ohne ein Wort zu sagen im Gleichklang mit ihm. Nach einiger Zeit stoppte er und sagte: „Man darf sich nicht schaukeln, sonst schaukelt der Papa mit!“ Nie wieder schaukelte er auf diese Art.

Im Mutter-Kind-Pass waren außerordentlich gute Werte vermerkt. Bei einem der Besuche bei der Mutter-Kind-Beratung stellte die Kinderärztin fest: „Der lässt es sich gut gehen.“ Ich war überrascht über diese Aussage, empfand sie aber keineswegs als besorgniserregend. Erst viele Jahre später hörte ich im Rahmen des Studiums von „General Movements“: Zu viel Bewegung und zu wenig, das dürfte beachtenswert sein. Dazu bedarf es allerdings Vergleichsmöglichkeiten und jungen Eltern fehlen diese üblicherweise.

Der Erwerb der Sprache setzte entwicklungsgemäß ein. Aber die Verwendung der Verben und der entsprechenden Personalendungen blieb schwierig. Aus den einzelnen Wörtern wurden keine richtigen Sätze, umfassendere Dialoge entstanden nicht. Gespräche wurden kaum durch entsprechende Gesten begleitet. Vor allem zeigte er Dinge nicht her, die für ihn eigentlich recht bedeutend waren, und eröffnete auf diese Art keine Dialoge.

Aus heutiger Sicht tauchen vor meinem inneren Auge so viele Details auf, die mich liebevoll an ihn denken lassen, damals erschienen sie aber belastend, unerklärlich und oft auch unerträglich. So zum Beispiel konnten rigorose Essgewohnheiten ein Problem darstellen. Er wollte nur den selbstgemachten Ribiselsaft der Oma trinken. Ein Problem, wenn der im Italienurlaub ausging und ich keinen vergleichbaren finden konnte. Veränderungen der Umstände und der Umgebung stellten kein Problem dar, solange wir in seiner Nähe waren. An der Seite seiner Eltern hat er das alles bewältigt. Änderten sich jedoch die Lebensumstände und auch die Personen in einer neuen Umgebung reagierte er heftig.
Der Schlüssel zu einem gangbaren Weg scheint in der Früherkennung zu liegen und darin, realistische Ziele zu erkennen. Auch gutgemeinter Druck wird unerträglich. Die Förderung ohne Überforderung sollte das Ziel für alle werden.

Literatur:
Diestelberger, Anton/Zöttl, Therese: Autismus – Struktur und Genese. Kriterien zur Beurteilung der Arbeit mit Autisten. Wien, Diplomarbeit, 1999

Diestelberger, Anton/Zöttl, Therese: Autismus – Integration oder Isolation. Wien, Dissertation, 2003

Rollett, Brigitte/Kastner-Koller, Ursula: Praxisbuch Autismus. München, 2010

Theunissen, Georg/Kulig, Wolfram/Leuchte, Vico/Paetz, Henriette (Hrsg.): Handlexikon Autismus-Spektrum. Stuttgart, 2015

Theunissen, Georg: Menschen im Autismus-Spektrum. Stuttgart, 2014

Zum Autor:
Dipl. Päd. Dr. Anton Diestelberger, Sonder- und Heilpädagoge, Obmann von Rainman’s Home Wien
Er ist Vater eines autistischen Sohnes (René, gest. 2012) und kennt die Probleme im Bereich Autismus aus den unterschiedlichsten Warten: Vater, Lehrer, Obmann und Geschäftsführer von Rainman’s Home, Erziehungwissenschafter
Die eigene Betroffenheit führte letztlich zu einem immer tieferen Verständnis und zu neuen Erkenntnissen für den erfolgreichen Umgang mit autistischen Menschen.

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