State of the Art – Autismus-Forschung und Fortschritt

Dieser Begriff, der wörtlich übersetzt „Stand der Kunst“ bedeutet, und ursprünglich vor allem im technischen Bereich verwendet wurde, bezeichnet in der Medizin den höchsten anzunehmenden Entwicklungsstand einer bestimmten Forschungsmethode oder Behandlungsweise.

Auch für den Bereich Autismus kann der Begriff sinnvoll übernommen werden. Nicht das eigentliche Problem, sondern die „Art“, wie man damit umgeht, ist entscheidend und kennzeichnet den Stand der Entwicklung und des Fortschritts. Hier liegen die bedeutenden Veränderungen und Entwicklungsmöglichkeiten.

Die Warte, von der aus etwas betrachtet wird, entscheidet unsere Eindrücke und Folgerungen. Je weiter wir uns entwickeln, je mehr wir Theorie und persönliche Erfahrung verknüpfen können, umso mehr generieren wir oft ein Bild in uns, das sich in Details vom bisherigen unterscheidet. Derart lassen sich ständige Adaptierungen der Einschätzungen, der Sichtweisen und letztlich der Handlungen ableiten.

Im ständigen Austausch mit anderen beeinflussen wir sogar zum momentanen Zeitpunkt für allgemein gültig gehaltene Meinungen zu einem Thema und prägen so das jeweilige zeitgemäße Bild mit, bewusst oder manchmal auch unbewusst. Dieser Prozess ist wesentlich und lässt der Erkenntnis Raum: „Was heute für richtig gehalten wird, kann morgen ganz anders gesehen werden.“

Autismus ist vor allem – eine der wenigen ziemlich gesicherten Aussagen zu den Ursachen – genetisch bedingt. Genetisch Bedingtes kann isoliert nicht „therapiert“ werden. Der Versuch, direkt die inneren Strukturen vom Menschen (das kann als Genetik erklärt werden) mit direktem Zugriff verändern zu wollen, muss scheitern und führt zur Vergrößerung der Probleme der Betroffenen.

Das bezieht sich nicht allein auf direkt Betroffene, sondern auch auf alle, die indirekt betroffen sind, sich betreffen lassen oder an der Seite autistischer Menschen zu Betroffenen werden. Die Schlüsse, die einzelne Menschen ziehen, und gefundene Erklärungen für scheinbare Fakten sind geradezu beängstigend, wenn Wissen fehlt.

Albinismus mag als dramatisches Beispiel gelten. Es handelt sich um eine angeborene Stoffwechselerkrankung, die zu einer Störung der Melaminbildung führt. Albinismus gehört zu den Erbkrankheiten, die auch von normal pigmentierten Elternteilen weitergegeben werden können, da der Gendefekt rezessiv – also zurücktretend – ist. Der Hinweis im Zusammenhang mit Autismus mutet vielleicht überraschend an. Keinesfalls soll der Eindruck erweckt werden, Albinismus und Autismus hätten die gleichen Ursachen. Aber die gemeinsame Bedeutung der Genetik ist augenscheinlich und auch der Umstand, inwieweit durch die Gesellschaft und die Menschen im Umfeld der Betroffenen Probleme vergrößert oder gelindert werden.

Denken wir zum Beispiel an dunkelhäutige Mütter in Afrika, die ein hellhäutiges Kind zur Welt bringen. Da werden Fantasien beflügelt, Erklärungen entworfen und Vorurteile gefällt. Die Andersartigkeit wird bekämpft, Betroffene geraten in Isolation, sie werden verfolgt und in der schlimmsten Konsequenz sogar getötet.

Niemand in unserer Gesellschaft und in unserer Zeit wird Albinismus als Geisterwerk sehen oder als Wiedergeburt eines Toten. Eine direkte Heilung ist klar erkennbar unmöglich. Aber es erschien und erscheint noch heute vielen denkbar, Autismus heilen zu können. Das ist leider unmöglich. Die andere Art der Wahrnehmung können wir in den inneren Strukturen eines Menschen nicht löschen und nicht umpolen. Aber unsere Sichtweisen sind beeinflussbar und dadurch können wir selbst „Wirklichkeiten“ beeinflussen, indem wir Bilder neu kreieren.

Die Einstellung zu den Problemen der Betroffenen, die Haltung im Umgang mit diesen Menschen, die bewusste Gestaltung des Umfelds, die Strukturierung der Abläufe dies alles eröffnet Wege zu einem lebbaren und lebenswerten Dasein. Die Frage ist nicht, was jemand nicht kann. Wesentlich ist zu erkennen, was ein Mensch kann. Daher konzentrieren wir uns in den Angeboten von Rainman’s Home besonders auf die Stärken der Betreuten. Viele Methoden zu kennen ist eine wirkungsvolle Ausgangslage, jeder einzelnen aber auch zu misstrauen, schafft ein Klima der distanzierten Behutsamkeit. Eines ist heute klar: Gewalt ist keine Lösung! Das war nicht immer so. In vielen Ansätzen „schlummert“ diese Haltung. Die Stärkenperspektive halten wir für zielführend, gepaart mit der Einsicht, Unmögliches nicht bewirken zu können. Aber im Rahmen des Möglichen kann so viel getan werden, wenn man es beherrscht und weiß, wie vorzugehen ist.

Eine andere Art der Wahrnehmung

Autismus – also eine andere Art der Wahrnehmung – änderte sich im Laufe der Zeit kaum, wohl aber unsere Sicht darauf. Die Zahl der Betroffenen allerdings scheint signifikant gestiegen zu sein. Einerseits, weil Autismus häufiger erkannt und diagnostiziert wird, andererseits dürfte die Zahl der Betroffenen eines Jahrgangs tatsächlich steigen. Die Beurteilung der beobachteten Merkmale hat sich in gewisser Weise geändert und erhobene Fakten werden anders gesehen und interpretiert. Das lässt ein anderes Bild von Autismus erscheinen; in gewisser Weise konstruieren wir damit auch Wirklichkeiten.

Allgemein anerkannt scheint heute die Annahme zu sein, Autismus ist eine Form der Neurodiversität, bei der die Reize aus der Umwelt im Gehirn anders verarbeitet werden. Mindestens ein Prozent der Bevölkerung ist betroffen, dazu gibt es eine große Dunkelziffer. Menschen, deren Auffälligkeiten geringer oder atypisch sind, wurden in der Vergangenheit weniger beachtet und erhielten folglich keine Diagnose.

Laut einer Studie der Universität Swansea erhalten Mädchen und Frauen ihre Diagnosen, wenn überhaupt, wesentlich später als Buben oder Männer (vgl. Anna Maria Rainer: Wieso Frauen bei Neurodivergenz übersehen werden, in Kurier, 31.07,24; Gesundheit).

 

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