Auf den ersten Blick erscheint Intelligenz klar definiert. Dem ist aber nicht so. Es kommt sehr darauf an, womit Intelligenz gemessen wird und worauf sich diese letztlich bezieht. Da einzelne kognitive Fähigkeiten unterschiedlich stark ausfallen können und keine Einigkeit besteht, wie sie zu bestimmen und zu unterscheiden sind, gibt es keine allgemein geteilte Definition der Intelligenz. Vielmehr schlagen die verschiedenen Intelligenztheorien unterschiedliche Operationalisierungen des alltagssprachlichen Begriffs vor.
Gehirne von Autisten scheinen anders zu arbeiten. Laurent MOTTRON, Professor an der Universität Montreal, nahm autistische Menschen in sein Forscherteam auf und setzte ihre andere Art zu denken als Stärken ein. Autisten dürften in Bildern denken, zu diesem Schluss kamen auch wir bei Rainman’s Home nach intensiven Interviews und Beobachtungen. Diese Spezialisierung der Hirnfunktionen bedeutet in bestimmten Bereichen sogar eine Leistungssteigerung. Laut verschiedener Studien bewältigen Autisten Wahrnehmungsaufgaben wie etwa das Erkennen eines Musters in einer verwirrenden Umgebung besser als Durchschnittsprobanden, fand MOTTRON. Beim Hören (etwa bei der Unterscheidung von Tonhöhen), beim Entdecken regelmäßiger Strukturen und beim geistigen Umbau komplexer dreidimensionaler Formen übertreffen manche hochfunktionelle Autisten Gesunde. Sie erzielen sogar höhere Werte im Raven- Matrizentest, einem klassischen Intelligenztest, bei dem die Teilnehmer fortlaufende visuelle Muster vervollständigen. In einem Experiment der Arbeitsgruppe von Laurent MOTTRON benötigten die untersuchten Autisten für diesen Test im Schnitt 40 Prozent weniger Zeit als andere Teilnehmer (vgl.: Zeitschrift Gehirn und Geist 3/2013, Spektrum). Der verwendete Test ist in einer nonverbalen Form erstellt. Eine Studie aus dem Jahr 2007 liefert den Beweis, dass Personen mit Asperger-Syndrom höhere Testergebnisse bei Ravens Matrizen erreichen als andere Personen. Eine weitere Studie ebenfalls von 2007 beweist, dass Personen mit klassischem Autismus höhere Testergebnisse in den Raven-Matrizen als im Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (WIE) erzielen. Ergänzend wird dazu festgehalten, dass Personen im klassischen Autismusbereich für die richtigen Antworten beim Ravens Matrizentests weniger Zeit benötigen als nichtautistische Testteilnehmer mit einem vergleichbaren Ergebnis (Dawson M, Soulières I, Gernsbacher MA, Mottron L: The level and nature of autistic intelligence. In: Psychol Sci. 18, Nr. 8, 2007, S. 657–62).
Ein Test liefert Ergebnisse. Wie diese interpretiert werden und wofür sie als Grundlage herangezogen werden, entscheiden die Anwender. Auffallend ist bei den Menschen im Autismusspektrum, dass ihre Leistungen ein deutlich differenziertes Bild ergeben. Stärken und Schwächen werden sichtbar. In den Tagesstätten von Rainman’s Home orientieren wir uns an den Stärken. Ein Grundsatz unseres Handelns lautet: „Die Stärken stärken, um mit Schwächen leben zu können!“ In der Andersartigkeit des autistischen Seins können auch Chancen liegen, diese müssen wir finden und entwickeln.
Viele Menschen im Autismusspektrum weisen, das muss ausgesprochen werden, Intelligenzminderungen auf. Auf spezielle Art und mit großem pädagogischen Wissen sind aber auch sie förderbar. Wir müssen jedoch, das betrifft jeden, eine realistische Sicht der Dinge anstreben und auch nach Zielen streben, die – wenn auch mit Mühen – erreichbar erscheinen.
Testverfahren haben im weiteren Verlauf ihre Berechtigung, allerdings nur dann, wenn sie nicht „defizitorientiert“ sind, sondern Fördermöglichkeiten und Kompetenzerwerb im Auge haben.